In einem riesigen Kreisbeschleuniger werden winzige geladene Teilchen generiert und auf 200.000 Kilometer pro Sekunde beschleunigt. Wenn sie schnell genug sind, werden sie zu einem Strahlgebündelt, mit dem dann auf den Tumor geschossen wird.
MedAustron bringt Medizin und Forschung auf Weltniveau – und mit einer innovativen Form derStrahlentherapie Hoffnung für viele Krebs-Patientinnen und -Patienten.
Der fünfjährige David leidet seit zwei Wochen an Kopfschmerzen, ihm ist oft übel, ermuss sich übergeben. Seine Eltern machen sich Sorgen. Als er eines Tages einenKrampfanfall bekommt und beinahe das Bewusstsein verliert, fahren sie sofort mit ihm indie Notaufnahme. Der kleine Patient wird gründlich durchgecheckt. Die Diagnose – einSchock: Hirntumor. Die Ärztin rät zu einer Strahlentherapie, die Heilungschancen stehengut, doch der Tumor liegt in der Nähe des Sehnervs, David könnte durch die Bestrahlungsein Augenlicht verlieren. Die Ärztin macht den Eltern Mut: Die Ionentherapie kann helfen,eine besondere Art der Strahlentherapie, die nur in fünf Zentren weltweit angeboten wird.Und eines dieser Zentren ist MedAustron im südlichen Niederösterreich, in Wiener Neu-stadt.
Innovative Strahlentherapie
Niederösterreich ist auf der internationalen Landkarte der Spitzenmedizin angekommenund bietet mit MedAustron eines der fortschrittlichsten Zentren der Krebsbehandlung.Was lange Zukunftsmusik war, passiert genau jetzt: Seit Mitte Dezember 2016 werdenhier die ersten Patientinnen und Patienten mit einer innovativen Form der Strahlentherapie(Ionentherapie oder Partikeltherapie) behandelt. Einfach erklärt funktioniert dies so: Winzi-ge geladene Teilchen werden generiert und dazu in einem riesigen Kreisbeschleunigerauf 200.000 Kilometer pro Sekunde beschleunigt. In einer Sekunde drehen diese winzi-gen Teilchen eine Million Runden. Das ist so weit, als würden sie von der Erde zum Mondfliegen. Wenn die Teilchen schnell genug sind, werden sie zu einem Strahl gebündelt, mitdem dann auf den Tumor geschossen wird. Das Gute: Die Dosis lässt sich auf das krankeGewebe fokussieren. So wird primär der Tumor behandelt und das gesunde Gewebe ge-schont. Es gibt weniger Nebenwirkungen und geringere Spätfolgen. Daher eignet sichdiese Therapie zur Behandlung von Tumoren, die in der Nähe von strahlenempfindlichenOrganen liegen, wie zum Beispiel dem Gehirn und dem Rückenmark, den Augen, der Le-ber und der Lunge. Oder bei Rezidiven, beim neuerlichen Auftreten eines Tumors. Da Ge-webe, das sich im Wachstum befindet, strahlenempfindlicher ist, eignen sich Protonenbesonders für Kinder und Jugendliche wie den kleinen David.
Heuer sollen bei MedAustron etwa 150 Patientinnen und Patienten behandelt werden,doch die Kapazität ist deutlich größer, im Vollbetrieb werden es circa tausend Personensein. Sukzessive wird die Frequenz gesteigert, berichtet der Ärztliche Direktor Prof. Eu-gen B. Hug: „Wir wollten unsere Türen öffnen, sobald wir behandeln können. Momentansind aber noch nicht alle Räume offen, weil Funktionalitäten in der Ionentherapie vervoll-ständigt werden. Eine komplexe Technologie wie diese braucht ihre Zeit.“
Protonen oder Kohlenstoffionen
Für die Ionentherapie werden Protonen oder Kohlen-stoffionen verwendet. Die ersten Patientenbehandlun-gen erfolgen mit Protonen und konzentrieren sich aufbestimmte Indikationen: Menschen mit Hirntumoren,Tumoren an der Schädelbasis oder dem Rückenmarkund im Bereich des Beckens. In Folge wird das Indika-tionsspektrum erweitert, bis zur Inbetriebnahme allerBestrahlungsräume und Teilchenarten, die 2020 abge-schlossen sein wird. Die Ionentherapie kann für einbreites Spektrum angeboten werden, doch nicht jederkommt für eine Behandlung in Frage, erklärt Eugen B.Hug: „Diese hochspezialisierte Medizin ist eine natio-nale Ressource. Damit sollen vor allem jene Personenbehandelt werden, für die es einen Unterschied macht– wenn etwa die konventionelle Strahlentherapie nichtausreicht oder keine anderen Therapien möglich sind,beispielsweise bei Rezidiven. Oder bei Kindern, dennbei ihnen kann eine konventionelle Strahlentherapiedeutliche Nebenwirkungen haben. Mit der Ionenthera-pie wird dieses Risiko reduziert.“ Voraussetzung fürdie Behandlung ist, dass der Tumor lokalisiert ist, alsonoch nicht gestreut hat. Der Bedarf an der Ionenthera-pie ist groß, auch im internationalen Kontext, weiß Eu-gen B. Hug: „Das Zentrum ist offen für alle Patienten.Aber es wurde von Österreichern für Österreicher ge-baut, darauf konzentrieren wir uns.“
Ambulante Behandlung
Die Behandlung findet ambulant statt. Über einen Zeitraum von etwadrei bis sieben Wochen, je nach Art des Tumors, kommt der Patient wo-chentags einmal täglich ins Zentrum, der Ablauf ist ähnlich wie bei derkonventionellen Strahlentherapie. Bei einem Hirntumor wird eigens eineMaske hergestellt, die dafür sorgt, dass der Patient immer in derselbenPosition liegt. Insgesamt dauert die Behandlung circa 50 Minuten, ange-strahlt wird der Tumor jedoch nur wenige Minuten. Viel Zeit wird darin in-vestiert, dass der Patient in der richtigen Position liegt. Die Ionentherapieist schmerzfrei und wird gut vertragen, weiß Prof. Eugen B. Hug: „Es gibtin der Regel geringere Nebenwirkungen, die meisten Patienten könnenihren Alltag weiterführen. Insgesamt können wir mit der Ionentherapiedie Lebensqualität verbessern – mit der Chance auf Heilung. Verspre-chungen kann man keine machen, aber MedAustron gibt vielen Men-schen wieder Hoffnung.“ Bei Redaktionsschluss offen waren noch Fra-gen zur Finanzierung der Behandlungen. Der Hauptverband der Sozial-versicherungsträger leistet derzeit nur einen Kostenzuschuss. An einerLösung im Sinne der Patientinnen und Patienten wird gearbeitet.
Eugen B. Hug ist ein international anerkannter Pionier der Partikelthera-pie, hat über 20 Jahre Erfahrung als Kliniker und Forscher. Die Ionenthe-rapie ist für ihn ein revolutionärer nächster großer Schritt in der Strahlen-therapie. Mehr als 140.000 Patienten wurden weltweit bereits damit be-handelt. MedAustron möchte zur Weiterentwicklung der Therapie beitra-gen – in Zusammenarbeit mit anderen Partikeltherapiezentren und derkonventionellen Strahlentherapie. Dazu wird künftig auch mit den NÖ Kli-niken kooperiert (siehe Interview).
Neben der Behandlung ist Forschung ein zentraler Schwer-punkt von MedAustron. In den kommenden Jahren gilt esherauszuarbeiten, für welche Krebserkrankungen die Ionen-therapie am besten geeignet ist, nicht zuletzt deshalb, weilsie nur begrenzt verfügbar ist und die traditionelle Strahlen-therapie nicht ersetzen wird. Spannende Erkenntnisse erwar-tet sich Eugen B. Hug vor allem in der Therapie mit Kohlen-stoffionen hinsichtlich ihrer biologischen Wirksamkeit, aberauch in der Frage nach der Kombination der Ionentherapiemit anderen Behandlungsmethoden. Die technische Anlagewird für ein breites Forschungsprogramm genutzt, bei demsich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Fragenaus der Strahlenbiologie und der Strahlenphysik widmen, diedann in klinischen Studien umgesetzt werden. Ihre Erkennt-nisse können langfristig dazu beitragen, die Therapie weiter-zuentwickeln.
Lange war es Vision, nun ist es Realität: MedAustron ist inBetrieb, eines der modernsten Zentren für Krebsbehandlungund Forschung in Europa, von dem viele Patientinnen undPatienten profitieren werden.
Karin Schrammel
Prof. Eugen B. Hug, der
Ärztliche Direktor von MedAustron,ist ein international anerkannter Pio-nier der Partikeltherapie mit über 20Jahren Erfahrung als
+ 200.000 Kilometer pro Sekunde: So schnell sind die Teilchen, die zurBestrahlung eingesetzt werden.
+ 200 Millionen Euro betragen die Investitionskosten für das Zentrum.+
+ 5 Zentren weltweit bieten derzeit die Ionentherapie sowohl mit Protonenals auch Kohlenstoffionen an.
+ 1.000 verschiedene Komponenten von über 200 Herstellern aus über20 verschiedenen Ländern sind im Beschleuniger verbaut.
+ Die 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen aus 18 Nationen. Ty-pische Berufsbilder sind Physiker, Techniker verschiedenster Fachrichtun-gen, Fachärzte für Radio-Onkologie, Medizinphysiker und Radiologietech-nologen.
+ 306 Arbeitsplätze werden durchschnittlich jährlich durch MedAustrongeschaffen.
+ 457 Millionen Euro an regionalwirtschaftlichen Effekten bringt MedAus-tron für Niederösterreich.
+ 12.000 Kilowatt beträgt die elektrische Anschlussleistung für MedAus-tron.
+ 200 Kilometer Stromkabel wurden verlegt.
+ 10.000.000.000.000 = 1013 Protonen benötigt man im Durchschnitt füreine Patientenbehandlung.
Was ist Ionentherapie?
Die Therapiemethode basiert auf den besonderenphysikalischen Eigenschaften von Ionen. Beim Ein-dringen von geladenen Teilchen in das menschlicheGewebe geben diese Energie ab. Je langsamer siewerden, desto höher ist der Energieverlust, der kurzvor dem annähernden Stillstand seinen Höhepunkterreicht („Bragg-Peak“). Das macht sich die Ionenthe-rapie zunutze: Dadurch kann die maximale Energie-abgabe genau auf den Bereich der Tumorerkrankungfokussiert werden. Die freiwerdende Energie verur-sacht Schäden an der DNA der Krebszellen, was we-gen der weitaus schlechteren Regenerationsfähigkeitvon Krebszellen (im Vergleich zu gesunden Zellen)letztlich zur Zerstörung des Tumors führt. Man sprichtdabei auch von der „biologischen Wirksamkeit“ vonIonen, wobei diese bei Kohlenstoffionen noch höherist als bei Protonen. Das bedeutet, dass mit Kohlen-stoffionen auch radioresistente Tumoren in ihremWachstum gestoppt bzw. vernichtet werden können.Die Ionentherapie kommt vor allem bei Tumoren zurAnwendung, die gegen traditionelle Strahlen resistentsind oder für jene in einer schwierig zu behandelndenanatomischen Lage.
MedAustron: die Meilensteine
+ 1989 bis 1994: Idee einer Neutronenspallationsanlage „Austron“, Machbarkeitsstudie
+ 2000 bis 2004: MedAustron-Designstudie
+ 31. Jänner 2005: Unterzeichnung der Grundvereinbarung zwischen der Republik Österreich, dem Land Niederösterreich und derStadt Wiener Neustadt
+ 21. April 2007: Die Errichtungs- und Betriebsgesellschaft MedAustron GmbH wird gegründet.
+ 26. November 2007: Kooperation mit CERN (Nutzung des vorhandenen Know-hows im Bereich des Teilchenbeschleunigers fürMedAustron)
+ 9. Juli 2008: Kooperation mit CNAO und INFN (Überarbeitung des CNAO-Designs durch MedAustron und Nutzung des Know-hows für die Planung des Teilchenbeschleunigers)
+ 21. Dezember 2010: MedAustron erhält positiven Umweltverträglichkeits-prüf-Bescheid.
+ 16. März 2011: MedAustron-Grundsteinlegung
+ August 2012: Fertigstellung des Gebäudes
+ 2013: Aufbau des Teilchenbeschleunigers
+ 13. November 2014: Teilchenstrahl erfolgreich im Behandlungsraum
+ Jänner 2015: Zwei Professuren bereits besetzt: „Medizinische Strahlenphysik und Onkotechnologie“ in Kooperation mit der MedU-ni Wien und „Medizinische Strahlenphysik“ in Kooperation mit der TU Wien.
+ 19. August 2016: Übergabe eines Bestrahlungsraumes an die Wissenschaft
+ 16. August 2016: Positiver Bescheid der UVP-Behörde für MedAustron als Ambulatorium
+ 13. Dezember 2016: Teilchenbeschleuniger erfolgreich als Medizinprodukt zertifiziert
+ 14. Dezember 2016: erste Patientenbehandlung mit Protonen
+ 10.000.000.000.000 = 1013 Protonen benötigt man im Durchschnitt für eine Patientenbehandlung.
INTERVIEW
Gemeinsam gegen Krebs
Wie ist die Versorgung von Krebs in Niederösterreich?
Niederösterreich bietet eine sehr gute Versorgung von Patientinnen und Patientenmit Krebserkrankungen. An der Hämato-Onkologie in Wiener Neustadt liegt dieFrequenz von ambulanten Kontakten zwischen 1.200 und 1.500 pro Monat, dazukommen noch die stationären Aufnahmen. Die Krebspatienten in Niederösterreichwerden nach dem letzten Stand der Wissenschaft behandelt, auch die Teilnahmean Studien mit den neuesten Substanzen ist möglich.
Wie lange muss man auf die Behandlung warten?
Wir versuchen die Wartezeiten so kurz wie möglich zu halten. Je nach (Verdachts-)Diagnose minimieren wir die Wartezeit auf ein Erstvorstellungsgespräch zwi-schen „sofort“ und zwei Wochen. Die Behandlung kann beginnen, sobald die Dia-gnose gesichert und die optimale Therapiestrategie durch Besprechung im Tumor-board festgesetzt ist.
Wie arbeiten die NÖ Kliniken im Kampf gegen Krebs zusammen?
Die niederösterreichischen Kliniken haben ein hervorragendes Onkologie-Informa-tions-
System (OIS), das es sonst in keinem Bundesland flächendeckend gibt: AlleKrebsfälle und sämt-liche Behandlungsschritte sollen damit strukturiert dokumen-tiert werden. Neudiagnostizierte Patienten werden im Tumorboard besprochen,eine Art Spezialistengremium, um die optimale Therapie bzw. alle möglichen The-rapieoptionen zu definieren. Im Tumorboard sind Fachärzte aus dem Gebiet derinternistischen Hämato-Onkologie, Pathologie, Radioonkologie, Radiologie sowieaus dem jeweiligen Organfach (Chirurgie, HNO, Dermatologie, Neurochirurgie,Gynäkologie) anwesend.
Inwieweit ergänzt MedAustron das Behandlungsspektrum?
MedAustron ist einzigartig in Österreich. Wir sind froh um die Erweiterung der Be-handlungsmöglichkeiten. Noch haben wir wenig Erfahrung damit, aber wir freuenuns sehr auf die Zusammenarbeit.
Prim. Priv.-Doz. Dr. BirgitGrünberger, Leiterin derAbteilung für Onkologie imLandesklinikum WienerNeustadt