„Hochsensible haben ein besonderes Bedürfnis nach Rückzug“, sagt Selbsthilfegruppen- Gründerin Karin Novi mit ihrem Kollegen ChristophPengl.
Die Erbsen des Lebens
Hochsensible Menschen empfinden tiefer und mehr als andere. Ihr Leben ist dadurch nichtgerade leicht, aber dafür sehr reich – wie Selbsthilfegruppen-Gründerin Karin Novi es er-lebt.
Erinnern Sie sich an das Märchen von der Prinzessin auf der Erbse? Die Geschichte jener jungen Frau,die eine unter zwanzig Matratzen liegende Erbse so sehr spürte, dass sie nicht schlafen konnte, ist pro-grammatisch für sogenannte hochsensible Menschen, zu denen manche Forscher 15 bis 20 Prozent derBevölkerung zählen. Eine von ihnen ist Karin Novi, 51, die sehr darunter litt, alles extrem fein wahrzuneh-men, sehr schnell von äußeren und inneren Reizen überflutet und emotional hoch empfindsam zu sein.
Intensivste Wahrnehmung
„Als Hochsensible erlebe ich die Welt mit all meinen Sinnen sehr intensiv. Ich nehme nicht nur Farben,Gerüche oder Konturen rund um mich herum besonders fein wahr, sondern vor allem auch Stimmungen.Und ich bin, wenn ich nicht auf mich und meine eigenen Bedürfnisse achte, schnell völlig davonüberflutet“, erzählt Novi. Als hoch empfindsamer Mensch tut sie sich sehr schwer damit, Nein zusagen und Grenzen zu ziehen. Das führt dazu, dass sie sich der Umwelt übermäßig anpasst und,wenn sie sich nicht sammeln kann, rasch überfordert ist
und dann ein besonderes Bedürfnis nach Rückzug und Abschirmung hat. Karin Novi spürt „die Erbsendes Lebens“ überdeutlich, doch anders als im Märchen, das gut ausging, weil der Prinz die empfind-same Fremde als echte Prinzessin erkannte und zur Frau nahm, spielte das Leben der 51-Jährigenlange übel mit. „Ich habe in meiner Kindheit und auch später viele schlimme Traumata erfahrenund darauf entsprechend reagiert, doch von meiner Umwelt bekam ich nur zu hören, dass ich michnicht so anstellen und zusammenreißen soll.“ Ratschläge, die viele Hochsensible bekommen, dochgerade das können sie nicht, und vor allem hilft es ihnen keineswegs bei der Bewältigung ihrer Ver-anlagung zur Hochsensibilität.
Was heißt hochsensibel?
Der Begriff Hochsensibilität geht auf die US-amerikanische Psychologin ElaineN. Aron zurück, die in den 1990er Jahren begann, das Phänomen zu erfor-schen und wissenschaftlich aufzuarbeiten. Der Pionierin zufolge zeigen sichUnterschiede in der sensorischen Sensibilität schon im Kindesalter: Hochsensi-ble nehmen ihre Umwelt besonders genau wahr und spüren innere Zuständewie Hunger oder Schmerzen stärker. Deshalb können sie, wie Karin Novi, leichtvon intensiven oder neuen Reizen überwältigt werden, weshalb sie darauf oftbesonders emotional reagieren – und zwar negativ wie positiv. Hochsensiblefühlen sich von der Gesellschaft oft überfordert – das macht einige zu Außen-seitern. Manche Autoren vermuten zudem, dass besonders empfindsame Men-schen auch überdurchschnittlich oft krank und empfänglicher für psychischeProbleme und psychosomatische Beschwerden seien. Andererseits aberschlummern scheinbar verborgene Talente in ihnen, etwa eine ausgeprägte
Kreativität und eine feine Wahrnehmung von Schönheiten aller Art. Das Konzept selbst ist nicht unumstritten: Man-che Wissenschaftler sehen in der Hochsensibilität eher eine Spielart von Neurotizismus (emotionale Labilität) oderÄngstlichkeit. Wie auch immer – Menschen, die so veranlagt sind, scheinen es nicht leicht zu haben im Leben.
Karin Novi trieb ihr früher unbewusst „falscher“ Umgang mit ihrer eigenen Hochsensibilität in den Alkoholismus,2014 landete sie auf der Psychiatrie und später in einer Rehabilitationsklinik in Gars am Kamp. „Dort erfuhr ich ei-nen anderen Umgang mit meinen eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen und lernte bei einem Vortrag das Kon-zept der Hochsensibilität kennen. Das war der Knackpunkt in meinem Leben. Endlich wusste ich, was mit mir losist!“
Hochsensibilität als Frühwarnsystem
In Gars traf Karin Novi auch den gleichbetroffenen Christoph Pengl, mit dem sie bis heute eine innige Freundschaftverbindet. Die beiden arbeiten zusammen im Sinne der feinfühligen Selbsthilfe für Hochsensible, berichtet Pengl:„Ich sehe meine Hochsensibilität heute nicht mehr als Problem, sondern als meine Bestimmung, mit der es mir im-mer wieder gelingt, anderen mit meinen feinen Antennen als Frühwarnsystem zu dienen.“ Er hat gemeinsam mitKarin Novi unter dem Pseudonym Chris Novi den autobiografisch geprägten Roman „I am Highly Sensitive – Chris-tus lebt“ verfasst, der demnächst im Selbstverlag erscheinen soll. „Ein extrem hochsinniger Mensch erkennt amEnde eines langen schwierigen Weges, dass jeder von uns anders empfindet. Im Verständnis des Du hört er damit
auf, andere verbessern zu wollen. Er entdeckt seine Na-türlichkeit und Sensibilität als Macht, die alles zu lösenvermag“, erzählt Christoph, der aus dem erhofften Erlösdes Buches Selbsthilfe-Aktivitäten finanzieren will.Selbsthilfe, die Karin bereits jetzt engagiert betreibt. Ka-rin gründete die Selbsthilfegruppe SAG7 für Hochsensi-ble im Universitätsklinikum Tulln und eine weitere inWien. Derzeit absolviert sie eine Ausbildung zur Gene-sungsbegleiterin beim Verein EX-IN, wo psychiatrieer-fahrene Men schen ihr Erfahrungswissen einbringen. DieSelbsthilfegruppe arbeitet nach einem Zwölf-Schritte-Programm, das dem der Anonymen Alkoholiker nach-empfunden ist und das Selbstvertrauen Betroffener stär-ken will. „In den Meetings kann man die Fähigkeit entwi-ckeln, sich selbst zu erkennen – durch die Offenheit unddas ehrliche Bekenntnis der anderen. Man lernt, die ei-genen Schwächen und Fehler selbstkritisch zu betrach-ten und sie zu zeigen. Dadurch erfährt man viel über dieeigene Begabung, man lernt zu sich zu stehen, und mankann gleichzeitig den Kampf und Widerstand gegen dieUmwelt beenden, denn der richtet sich schlussendlichoft gegen einen selbst.“
Magisches Elixier
Der Austausch mit Gleichbetroffenen ist für Karin Noviein magisches Überlebenselixier: „Bei den Treffen gehtes um den anonymen, freiwilligen Gedanken- und Ge-fühlsaustausch auf Augenhöhe. Der Kontakt untereinan-der, geprägt durch Offenheit und Ehrlichkeit, hilft, sichselbst besser erkennen, annehmen, vertrauen und lie-ben zu lernen. So kann man auch die ständige zwang-hafte Suche nach Aufmerksamkeit, Akzeptanz, Anerken-nung und Geborgenheit durchbrechen. Das verstehenwir unter der Genesung, die wir alle anstreben.“ WederKarin Novi noch Christoph Pengl wollen ihre Hochsensi-bilität „loswerden“, sondern bewusst und gut damit le-ben. Dazu ist es wichtig, die Feinfühligkeit auch gezieltfür sich selbst einzusetzen, um Belastungsgrenzen oderÜberreizung rechtzeitig wahrzunehmen. Achtsamkeit imHier und Jetzt ist ein entscheidendes Stichwort für diegute Bewältigung eines hochsensiblen Lebens, und derEinklang mit der Natur ist es ebenfalls. Karin und Chris-toph wissen: „Gelingt das, so zeigt sich die schöne Kehr-seite der Medaille. Denn Hochsensible können sich be-sonders gut in andere Menschen oder Situationen einf-ühlen, empathisch zuhören und behutsam mit anderenumgehen – Qualitäten, die gerade heute von großer Be-deutung sind.“
GABRIELE VASAK
Der Einklang
mit der
Natur hilft, ein
hochsensibles
Leben zu
bewältigen.
SIND SIE HOCHSENSIBEL?
Die wichtigsten Kennzeichen:
+ Sie nehmen über ihre fünf Sinne feiner, detaillierterund ganzheitlicher wahrund verarbeiten diese Informa-tionen auch komplexer.
+ Sie haben häufig eine erweiterte Wahrnehmung überihren 6. oder 7. Sinn (Intuition, Medialität), spüren starkEnergien, Stimmungen etc.
+ Sie haben ein komplexes Innenleben und eine tiefereArt zu reflektieren und nachzudenken.
+ Sie sind oft sehr ernsthaft, gewissenhaft bis perfektio-nistisch.
+ Sie haben ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfin-den und Harmoniebedürfnis.
+ Sie fühlen sich im Zweiergespräch und in kleinenGruppen wohler als unter vielen Menschen.
+ Sie reagieren besonders stark auf äußere Reize:
+ Sie sind oft empfindlich gegenüber lauten Geräu-schen, starken Gerüchen, grellem Licht, aber auchgegenüber Emotionen sowie Substanzen wie Kaffee,Alkohol und bestimmten Nahrungsmitteln.
+ Sie neigen zu Allergien.
+ Sie sind schmerzempfindlich und schreckhaft.
+ Sie sind nervös unter Leistungsdruck, Zeitdruck undin Prüfungssituationen.
+ Sie neigen zu Erschöpftheit bei mangelnden Rück-zugs- und Regenerationsressourcen (Burnout, Depres-sion, Sucht, körperliche Beschwerden können Sie quä-len).
+ Sie neigen zu Gereiztheit und vehementer Abgren-zung, wenn die Reizüberflutung zu groß wird.
Quelle: Infomappe SA G7. Sensibel. Anonym. Gemeinsam.