FotoS: Daniela Rittmannsberger, Barbara Mair
Konzentriert bindet Ingrid Drechsler einen doppelten Achterknoten. Im Anschluss folgt der Partnercheck mit ihrem Mann. Und dann legt die 67-Jährige los: Behutsam steigt sie auf einen blauen Klettergriff und hält sich weiter oben mit den
Händen fest. Vor der sportlichen Frau liegt eine 16 Meter hohe Kletterwand. Flink und vor allem konzentriert klettert sie die Wand mit den bunten Griffen empor. „Lass dir Zeit“, ruft ihr Mann von unten und sie folgt sei- nen Anweisungen. Ingrid Drechslers Hände
zittern nur hin und wieder, die meiste Zeit sind sie ruhig. Etwas, das sie aus dem Alltag nicht kennt. Denn die Ernsthofnerin leidet seit elf Jahren an Morbus Parkinson.
Körperspannung lässt nach
Zittern führte die Frau vor elf Jahren zum Arzt: „Ich habe zum Doktor gesagt, ich glaube, dass ich Parkin- son habe“, erinnert sich Ingrid Drechsler. Ein MRT bestätigte ihren Verdacht: Sie leidet an Morbus Parkin- son, einer unheilbaren Erkrankung des Nervensystems. Bis zu diesem Zeitpunkt geht Ingrid Drechsler ger- ne mit ihrem Mann wandern. Damit, erklärt ihr der Arzt, sei nun Schluss. Spazierengehen und tanzen solle sie stattdessen. Ingrid Drechsler informiert sich daraufhin über die Erkrankung und geeignete Therapien. Fünf Jahre nach der Diagnose beginnt sie, Medikamente einzunehmen, um mehr Kontrolle zurückzuerlan- gen. Über die Jahre macht sich die Erkrankung auch in anderen Bereichen des Körpers bemerkbar: Ingrid Drechsler wird unsicher beim Gehen, ihre Körperspannung lässt nach. Beim Stiegensteigen muss sie zwi- schendurch anhalten. Eine Leiter hat Ingrid Drechsler zu diesem Zeitpunkt seit Jahren nicht mehr bestiegen.
Konzentration lindert Beschwerden
Im Sommer vergangenen Jahres hört Ingrid Drechsler dann von der Studie „Climb up, Head up!“ der Medi- zinischen Universität Wien. Gesucht werden 50 Personen, die an Parkinson erkrankt sind. 25 Patienten sol- len Übungen, die von der WHO empfohlen
werden, regelmäßig durchführen. Die anderen 25 Teilnehmenden setzen auf eine andere Therapie: Sport- klettern. Ingrid Drechsler ist sofort begeistert und meldet sich an. Ab diesem Zeitpunkt klettert sie zwölf Wochen lang in der Kletterhalle Marswiese in Wien für eineinhalb Stunden pro Woche. Bei einem Test nach dem Klettertraining erwarten Ingrid Drechsler dann erfreuliche Ergebnisse: Ihre Kraft wurde mehr und ihre Kreuzschmerzen verschwanden. Das Klettern wird zu ihrer Leidenschaft, die sie von nun an regelmäßig ausübt: Ein paar Mal in der Woche kommt sie gemeinsam mit ihrem Mann in die Kletterhalle in Gaflenz und in Steyr. Zwei Stunden lang wechseln sich die beiden ab. Wenn Ingrid Drechsler klettert, sichert sie ihr Mann. Und wenn er die Wände hochklettert, behält sie am Boden den Überblick. Anfangs, erinnert sie sich, habe sie Angst gehabt, jemanden zu sichern. Doch dabei ist es wie beim Klettern selbst: Ihre Hände hören auf zu zittern. Die Konzentration lindert die Beschwerden: „Wenn man etwas tut, worin man aufgeht, ver- gisst man das Zittern“, schwärmt die lebensfrohe Frau. Für Ingrid Drechsler ist vor allem das Gefühl, oben
anzukommen, ein ganz besonders schönes. Das sieht man ihr an, als sie wieder sicher am Boden der Kletterhalle angekommen ist: Sie wirkt losgelöst und zufrieden.
Geistig abschalten
Klettern habe in den vergangenen Jahren in der Parkinson-Therapie an Bedeutung gewonnen, erklärt. Univ.-Prof. Dr. Harald Tschan, Leiter der Abteilung für Trainings- und Bewegungswissenschaft an der Universität Wien: „Die Krankheit zeichnet sich unter anderem durch Gle- ichgewichts- und Gangstörungen sowie verminderte Muskelkraft aus. Durch die Unsicherheit und Sturzgefahr wird die Lebensqualität der Pa- tientinnen und Patienten oft stark beeinträchtigt. Therapeutisches Klet- tern kräftigt die Muskulatur und verbessert die Gleichgewichtskoordina- tion und die Mobilität. Das trägt zu einer erhöhten Bewegungssicherheit bei und wirkt sich auch positiv auf die Psyche der Patientinnen und Pa- tienten aus.“
Klettern kann man in jedem Alter erlernen, sagt der Inhaber der Gaflen- zer Kletterhalle, Franz Pichler. Am Grundkurs, den er in seiner Kletter- halle anbietet, nehmen auch 70-Jährige teil. Seit 15 Jahren boome der Sport. Das Klettern sei eine natürliche Bewegung, die im Menschen vorhanden ist. Bereits Kinder klettern, bevor sie zu gehen beginnen. Und Ingrid Drechsler fügt hinzu: „Man kann nur dann gut klettern, wenn man geistig abschalten kann.“ Beim Klettern habe sie nur den nächsten Griff, den nächsten Schritt im Kopf. Dass man dabei auch seinen Körp- er trainiert – das macht das Klettern für Ingrid Drechsler aus. Ihre