Das Glück ist ein U

Unsere Lebenszufriedenheit ist in jungen Jahren groß, erreicht zwischen Anfang Vierzig und Mitte Fünfzig die Talsohle und steigt mit zunehmendem Alter wieder an. Warum ist die Lebensmitte so krisenanfällig? Was können wir aus diesen Herausforderungen lernen? Und wie finden wir zu neuem Glück?

Das Wohlbefinden folgt im Laufe des Lebens einer U-Kurve: Wir sind in jungen Jahren eher glücklich, erfahren den emotionalen Tiefpunkt mit durchschnittlich Mitte Vierzig und werden dann wieder zufriedener.

Der Mittfünfziger mit plötzlich gefärbtem Haar, neuem Fitnessstudio-Abo und schnittigem Sportwagen – dieses Bild oder ähnliche Assoziationen tauchen unvermittelt auf, wenn wir an das Wort ‚Midlife Crisis‘ denken. Ein Klischee, das mit den wahren Herausforderungen der Lebensmitte wenig zu tun hat, wie Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello erläutert. Die Schweizer Entwicklungspsychologin und Psychotherapeutin befasst sich seit Jahrzehnten mit der Phase des mittleren und höheren Lebensalters und weiß: „Krisen in der Lebensmitte sind ganz normal. Wir sprechen in der Psychologie aber nicht von der Midlife Crisis, denn es handelt sich nicht um eine spezifische Krise, sondern vielmehr um eine krisenanfällige Zeit.“ Viele Gründe seien verantwortlich dafür, dass die Lebensphase zwischen Anfang Vierzig und Mitte 50 als besonders herausfordernd erlebt wird, so die Wissenschaftlerin: „Ähnlich wie die Pubertät oder die Pensionierung ist auch die Lebensmitte eine Zeit der Umbrüche – und zwar sowohl familiär als auch beruflich und persönlich.“

Zeit des Umbruchs

Körperliche Veränderungen lassen bei vielen das Glücksgefühl und Wohlbefinden in dieser Phase sinken. „Bei Frauen sind es die Wechseljahre und das Ende der Fertilität, Männern macht ein sinkender Testosteronspiegel zu schaffen“, so Perrig-Chiello. Hinzu komme ein verändertes Aussehen, der Übergang von jung zu alt: „Das Alter hat in unserer Gesellschaft leider eine negative Konnotation. Alle wollen alt werden, aber niemand will alt sein.“ Das spiegle sich auch im Berufsleben wider, so die Wissenschaftlerin: „Heute gilt in vielen Unternehmen die Gruppe ab 45 Plus schon als problematisch. In der Lebensmitte hat man meist auch den Karrierezenit erreicht, die Jungen rücken nach, der Druck wächst“, erklärt die Entwicklungspsychologin.

Auf der Suche nach dem Sinn

Ein Klassiker in dieser Lebensphase: Bilanz ziehen. „Wenn das Lebenszeitfenster kleiner wird, kommt es häufig zu einem Abgleich mit der Realität. Man blickt zurück auf die Träume, die man hatte, die Wünsche, die man realisieren konnte, aber auch die Ziele, die man nicht erreicht hat“, erklärt die Expertin. Für viele endet dieser Bilanzierungsprozess in einer Sinnkrise: „Vor allem dann, wenn das Gefühl stark ist, durch Kompromisse Chancen verpasst zu haben – wenn sich die Frage auftut: ‚Was wäre gewesen, wenn", so Perrig-Chiello. Nicht zuletzt sprechen auch hier die Zahlen eine deutliche Sprache, denn: Die Lebensmitte ist jene Phase, in der die meisten Fälle von Depressionen und Burnout zu verzeichnen sind. „Man verlässt gewohnte Rollen und muss sich neue aneignen. Es stehen viele Übergänge an, bei denen Anpassungsleistung und eine Neudefinition der Identität gefragt sind. All das erfordert viel Kraft und Zeit.“ Die gute Nachricht? Die Lebensmitte bietet trotz ihrer Krisen eine riesige Chance auf neues Glück. „Oder gerade aufgrund dieser Krisen. Denn was wäre unser Leben ohne Herausforderungen? Hätten wir keine Widerstände, würden wir uns nie weiterentwickeln, das wäre doch furchtbar langweilig!“, so die Expertin, die Mut macht: „Die meisten kommen gestärkt aus Krisen und den Lektionen des Lebens heraus. In der Lebensmitte lernen wir, dass Krisen bewältigt werden können und dadurch werden wir resilient. Wir lernen Weitsicht und Gelassenheit.“ Dass dies vielen so ergeht, belegen zahlreiche wissenschaftliche Studien aus der Glücksforschung. Demnach folgt das Wohlbefinden im Laufe des Lebens einer U-Kurve: Wir sind in jungen Jahren eher glücklich, erfahren den emotionalen Tiefpunkt mit durchschnittlich Mitte Vierzig und werden dann wieder zufriedener. Das haben Wissenschaftler in mehr als 80 Nationen über alle sozioökonomischen Gruppen hinweg herausgefunden.

Die Krise als Chance für neues Glück

Doch wie verwandeln wir die Krise der Lebensmitte in neues Glück? „Erstens muss man im Leben lernen, dass man jederzeit Korrekturen einbringen kann und dass man sich nicht als Opfer von irgendwelchen Geschehnissen sehen sollte“, betont Perrig-Chiello. Zudem gelte es zu akzeptieren, dass Scheitern zum Leben gehöre und dass Entscheidungen, die getroffen wurden, sich nicht immer als optimal herausstellen. „Betrachten Sie den Weg, den Sie eingeschlagen haben, versöhnlich und sehen Sie die Chancen, die Sie immer noch haben!“

 

Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello, Entwicklungspsychologin und Psychotherapeutin

 

Text: Claudia Sebunk | Fotos: istock_atakan, iStock_amriphoto; beigestellt
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