Die stille Sprache des Gesichts
Gesichtsleser sind überzeugt: Der Charakter eines Menschen ist ihm ins Gesicht geschrieben. Ob Gesichtszüge tatsächlich Bände sprechen und verborgene Informationen preisgeben, die sich methodisch entschlüsseln lassen, ist allerdings umstritten.
Lässt sich der Charakter im Gesicht erkennen? Diese Frage beschäftigt die Menschheit seit über tausend Jahren. Die Ursprünge der Physiognomie, also der Lehre über den Zusammenhang zwischen dem äußeren Erscheinungsbild und bestimmten Wesenszügen, reichen weit in die Vergangenheit zurück. Frühe Formen der Gesichts- und Körperdeutung existierten bereits in altägyptischen, mesopotamischen und chinesischen Kulturen. Der griechische Philosoph Aristoteles (384–322 v. Chr.) gehörte zu den Ersten, die versuchten, die Physiognomie als geordnetes Denksystem zu erfassen. Er schloss dabei aus äußeren Merkmalen wie Gesichtsform, Augen, Gang, Stimme und Körperhaltung auf die Persönlichkeit eines Menschen. Zu den Kernideen der Aristoteles zugeschriebenen Schrift „Physiognomica“ zählen Tiervergleiche: So galten Menschen mit löwenähnlichen Gesichtszügen als mutig und stolz, während ein schweineähnliches Gesicht mit Eigenschaften wie Trägheit und Gier in Verbindung gebracht wurde.
Modernes Face Reading
Der Laienforscher und Charakterdeuter Carl Huter (1861–1912) baute auf der aristotelischen Idee auf, dass der Körper Ausdruck des Geistes und der Seele ist. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte er die pseudo-wissenschaftliche Lehre der Psycho-Physiognomik, die anhand von Gesichtsmerkmalen und Körperbau versucht, Erkenntnisse über Charakteranlagen, Denkweisen, Talente und Potenziale zu gewinnen. Moderne Face Reader – also Gesichtsleser –, die beispielsweise im Coaching oder in Persönlichkeitsseminaren tätig sind, arbeiten meist intuitiv und nutzen eine Mischung verschiedener Methoden: darunter die Psycho-Physiognomik, die traditionelle chinesische Gesichtsanalyse sowie Elemente aus Psychologie und Körpersprache
Was die Mundform laut Face Reading verrät
Für Face-Reading-Experten spiegeln Mund- und Lippengröße die Lebenseinstellung und den emotionalen Ausdruck wider. Der Mund zeigt, ob jemand seine Gefühle und Gedanken offen mitteilt oder diese eher zurückhält.
Volle Lippen
Ausgeprägte Lippen deuten auf einen extrovertierten und kommunikativen Menschen hin. Menschen mit vollen Lippen sind demnach gute Redner und lieben ausgedehnte Gespräche. Ihre Aussagen sollten allerdings nicht auf die Goldwaage gelegt werden.
Schmale Lippen
Diese Menschen suchen sich ihre Gesprächspartnerinnen und -partner gezielter aus. Je schmaler die Lippen sind, desto ausgeprägter soll die Sprachgewandtheit sein. Menschen mit schmalem Mund sprechen nur wenig über ihre inneren Vorgänge und können Probleme damit haben, loszulassen.
Mund ohne Lippen
An einem lippenlosen Mund lässt sich laut Face Reader die Fokussierung auf materielle Dinge ablesen. Diese Mundform ist häufig bei Geschäftsleuten zu finden, die mit Menschen in ihrer Umgebung über alles reden können – nur nicht über persönliche und emotionale Themen.
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„Die Psychologie warnt“
Lisa Göschlberger, MSc BSc BA, Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin
Interview mit Lisa Göschlberger, Psychotherapeutin, Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin
Spiegelt sich der Charakter im Gesicht?
Die Annahme, dass der Charaktereines Menschen im Gesicht erkennbar sei, ist psychologisch nicht haltbar. Zwar gibt es einzelne Hinweise darauf, dass gewisse Persönlichkeitsmerkmale wie Dominanz oder Extraversion unter bestimmten Bedingungen über die Mimik oder das Ausdrucksverhalten wahrgenommen werden können, doch diese Effekte sind schwach, kontextabhängig und keinesfalls zuverlässig. Die moderne Emotionspsychologie beschäftigt sich mit der Interpretation von Gesichtsausdrücken, nicht aber mit dauerhaften Gesichtsformen.
Birgt das Face Reading auch Gefahren?
Wenn Methoden wie Face Reading in praktischen Kontexten wie Personalauswahl oder Pädagogik eingesetzt werden, besteht eine erhebliche Gefahr der Diskriminierung. Menschen könnten auf Basis äußerlicher Merkmale voreilig beurteilt werden – ein ethisch und methodisch höchst problematischer Ansatz. Auch der Einsatz automatisierter Gesichtsanalyse mittels Künstlicher Intelligenz ist kritisch zu bewerten, da diese Verfahren fehleranfällig sind und oft nicht transparent arbeiten. Die Psychologie warnt daher ausdrücklich davor, äußere Merkmale zur Beurteilung innerer Eigenschaften heranzuziehen.
Text: Jacqueline Kacetl⎪Fotos: iStock_CoffeeAndMilk; Reinhard Gatttinger