Die Last des Schweigens
Mit dem Film „Nebelkind – The End of Silence“ kam im Vorjahr ein Thema ins Kino, das tief in die kollektive Seele eingreift: das Schweigen über traumatische Erlebnisse, das sich über Generationen fortsetzt – und deren Nachfahren verändert.
Ein Wolf führt Hannah in den düsteren Nebel eines böhmischen Dorfes, zurück zu den Wurzeln ihrer Familie – und mitten hinein in eine jahrzehntelange Sprachlosigkeit. Was auf der Leinwand als persönliche Spurensuche beginnt, entpuppt sich als universelle Geschichte über das Weiterleben von Traumata: im Körper, im Verhalten, im Schweigen. Was wissenschaftlich heute als transgenerationales Trauma bezeichnet wird, trifft gegenwärtig auf großes Interesse. Die Bücherregale sind voll mit Werken über die Weitergabe von Traumata und wie man diese erkennt und behandelt.
Wenn Vergangenheit nicht vergeht
Die Forschung kennt das Phänomen schon lange: Kinder und Enkel von Überlebenden des Holocaust oder anderer großer Traumata zeigen oft psychische Belastungen, als hätten sie selbst das Erlebte durchlitten. Mitte der 1960er-Jahre begann die Wissenschaft, sich mit Traumata einzelner Nachkommen von Holocaust-Überlebenden zu beschäftigen, in den 1970er- und 1980er-Jahren folgten umfangreiche Studien dazu. Das erschreckende Ergebnis aller Forschungsarbeiten zeigt, dass Menschen ein Trauma nicht persönlich erlebt haben müssen, um Traumafolgen zu entwickeln. Schamgefühle oder bestimmte emotionale Verhaltensweisen wie die Angst vor Nähe ließen für die Wissenschafterinnen und Wissenschafter den Schluss zu, dass Traumata über bestimmtes Verhalten oder über die Interaktion der Vorfahren an nachkommende Generationen weitergegeben werden können.
Prim. Assoc. Prof. PD Dr. Martin Aigner
Leiter der Klinischen Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am Universitätsklinikum Tulln
„Der durch ein Trauma bedingte Stress kann sowohl bei Betroffenen als auch bei Kindern und Enkeln zu einem veränderten Kortisolspiegel führen.“
Text: Doris Simhofer | Foto: iStock_aldomurillo, beigestellt